 Leseprobe
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        Mittwoch, den 30.August 1938 im Moor von Frøslev
        
         
        Wenn ein alter Knochen zerbricht, entsteht ein ganz 
          eigenes Geräusch. Nicht dumpf oder kraftvoll wie der markige Ton 
          bei einem frischen Schweineschenkel oder Schafbein, sondern trocken 
          und scharf, knallend, wie wenn man im Wald auf einen trockenen Zweig 
          tritt. Als es geschah, befand sich der Mann mitten im Moor. Über 
          ihm die blaue Weite des Spätsommerhimmels, hier und da durchbrochen 
          von dünnen weißen Wolkenstreifen, die an den Rändern 
          ausgefranst waren wie verschlissenes Segeltuch. Zuweilen glitten sie 
          vor die Sonne und ließen das Licht gelblich werden. Nur Vögel, 
          Brachvogel und Weihe, waren zu hören, sie flogen tief über 
          dem Sumpfland dahin, beinahe lautlos jetzt, wo der August zu Ende ging. 
          Hin und wieder spürte er den Schatten eines Flügelpaares zwischen 
          sich und der Sonne.
          
          
        Der Mann hatte methodisch gegraben und sich ab und 
          an ein Weilchen auf dem Spaten ausgeruht. Vom jahrelangen Gebrauch war 
          der Griff weich und glatt wie Haut. Ihm blieb vielleicht noch eine Stunde 
          Arbeit bis zur Mittagspause, das spürte er an seinem Körper. 
          Der platte Torfspaten war durch das, was einst ein Schienbein gewesen 
          war, widerstandslos hindurchgegangen, doch ähnelte der Knochen, 
          dessen Gewebe so viel vom Saft des Moors, seinem humusreichen schlammigen 
          Wasser, aufgesogen hatte, jetzt vornehmlich einem dünnen Ast. Der 
          Mann wollte Torf für den Gutshof in Viberød stechen und 
          hatte bereits gut zwei Quadratmeter in fette schwarze Vierecke zerlegt 
          und sorgfältig auf dem Karren gestapelt. Er legte den Spaten beiseite 
          und beugte sich tief in die Grube. In der Erde lagen noch mehr Überreste, 
          das konnte er erkennen. An dem Knochenstück klebte etwas, das wie 
          grober Stoff aussah, die andere Hälfte führte in die Torfschicht 
          hinein. Der Mann kniete sich auf den Boden. Die Düfte des Moors 
          stiegen ihm in die Nase. Zeit, Wasser, Fäulnis, Vergessen. Gerüche, 
          die einen Geschmack, eine sinnliche Wahrnehmung auf der Zunge hinterließen. 
          Die Vegetation an der Oberfläche des Sumpfes duftete nach Heide, 
          Sonnenwärme und satt nach Spätsommer. Der Mann in der Grube 
          schloss die Augen, benommen von der klebrigen Wärme und den intensiven 
          Gerüchen. Wasser drang aus dem Loch, rieselte und sprudelte wie 
          aus einer unterirdischen Quelle. Der Boden überzog sich mit einem 
          glänzenden öligen Film, in dem sich der Sommerhimmel spiegelte, 
          als befänden sich Wolken und Himmel hier unten in der Erde, wenn 
          auch in anderen, dumpferen Farbtönen. Der Mann öffnete die 
          Augen wieder und blickte aufmerksam umher. Die Landschaft war unverändert. 
          Ein Raubvogel stieß auf seine Beute hinunter, so blitzschnell, 
          dass es schien, als falle er durch die Luft. Das war alles. Vorsichtig 
          begann der Mann den Körper freizulegen. Anfangs nahm er den Spaten 
          zu Hilfe, doch bald sah er sich gezwungen, das Werkzeug beiseite zu 
          legen und mit bloßen Händen zu graben. Er nahm sich Zeit 
          und ging mit einer
          
          
            
            
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          Behutsamkeit vor, die er selbst nicht recht verstand. Die Erde unter 
          seinen Fingern war kalt und schwer. Unnachgiebig. Schweiß lief 
          ihm in die Augen. Es strengte an, gebeugt in der Grube zu stehen, und 
          er spürte, wie ihm das Hemd am Körper festklebte. Sein Atem 
          ging schwer und keuchend, als sei er gerannt. Eine Fliege kroch über 
          die Schweißspuren in seinem Gesicht, und irritiert scheuchte er 
          sie weg. Doch die Fliege kam zurück, suchte beharrlich nach einer 
          neuen Stelle, um sich niederzulassen, und fand das Sonderbare, das aus 
          dem Torfboden zu Tage getreten war. Ein zweites Gesicht, dunkelbraun, 
          zu Leder gegerbt von den vielen sinnreich zusammengesetzten Wassern 
          des Moors. Die Gestalt lag zusammengekrümmt, die Beine ans Kinn 
          gezogen wie im Schlaf. Ein Unterschenkel hatte sich aus seinem Halt 
          gelöst und ragte in spitzem Winkel vom Körper weg. Der Mann 
          in der Grube bewegte sich vorsichtig und vermied es tunlichst, Haut, 
          Knochen oder Leder zu berühren. Der Körper war nun fast gänzlich 
          freigelegt. Bislang schien es, als sei er vollständig, er hatte 
          Rumpf, Arme, Beine und Kopf. An der Haut des Schädels hafteten 
          rötliche Locken. Wie seltsam schön diese Haare doch waren. 
          Geradezu leuchtend. Wie durch ein Wunder hatte die Gestalt die ganze 
          Zeit hier gelegen, unangefochten von der Torfdränage, dem Frühjahrshochwasser 
          und den Gängen der Kleintiere unter der Erde. Etwas, das wie ein 
          Ränzel oder ein Tornister aussah, mit Lederbesätzen an den 
          Ecken, lag neben dem Körper. Ob das Behältnis selbst aus Stoff 
          oder Leder bestand, ließ sich unmöglich feststellen, es war 
          von Erde und Wasser durchtränkt. Über die Gestalt streckte 
          sich ein halb vermodertes Stück Tuch. Ein Mantel? Der halb verrottete 
          Stoff hatte sich Rumpf und Beinen wie eine zweite Haut angepasst, vermutlich 
          hatte ihn das Gewicht der Erde geformt. Von Schuhen oder Stiefeln war 
          nichts zu entdecken, denn die Füße fehlten. Beide Unterschenkel 
          waren mit einem sauberen Hieb durchtrennt, als hätte ein Metzger 
          die Axt geführt. Um den schmalen Hals lag eine enge Schlinge, wie 
          sie der Mann benutzte, wenn er Hasen an der Wand des Kalthauses befestigte 
           Wild, das dort einige Tage abhängen musste, bevor es in 
          den Kochtopf kam. Es verblüffte ihn, wie bekannt ihm der Knoten 
          vorkam und wie viel Elastizität das Strickende noch immer zu besitzen 
          schien. Der Strang war etwa einen Dezimeter vom Hals entfernt abgeschlagen. 
          Vorsichtig befühlte der Mann das Seilende. Diese Tat hier war vor 
          langer Zeit geschehen, das begriff er. Der Körper roch wie das 
          Moor selbst, nach Erde und Wasser, der Mann spürte keinen Unterschied, 
          als er sich ihm bis auf geringen Abstand näherte. Sein Schatten 
          fiel auf das dunkelfarbige Gesicht, und einen Augenblick lang schien 
          es, als verändere der Tote die Miene. Er wirkte müder, leidender, 
          als habe man seine Ruhe gestört, als müsse er sich erneut 
          im Tageslicht quälen. Ein Brachvogel ließ seinen schrillen 
          Klageruf über dem Sumpfland ertönen, gellend schrie er über 
          der von schmalen Stegen durchzogenen Einöde. Der Torfstecher hatte 
          genug. Etwas vom nicht greifbaren Schrecken des Kindes vor Dunkelheit 
          und Nacht packte ihn, obgleich doch lichter Tag war. Er stemmte sich 
          aus der Grube und kroch so rasch wie es seine Kräfte zuließen 
          über den glitschigen Rand. Angst lag plötzlich in der Luft, 
          als hätte der Tote etwas von seinem letzten bewussten Moment an 
          ihn weitergegeben. Mit fahrigen Händen griff der Mann nach dem 
          Spaten und rannte los, als sei der Teufel hinter ihm her. Um ihn herum 
          lag die Moorlandschaft still und reglos wie zuvor.
          
          Danke an den Reclam Leipzig Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.